Er kam spät in der Nacht zu der Herberge, die auf ihn zu warten schien. In einem Zimmer im ersten Stock brannte noch Licht. Er stand zögernd vor dem Eingangstor, klopfte sich den Schnee vom Mantel. Schließlich drückte er auf den Klingelknopf. Er hörte konzentriert hin, wie das Klingeln sich ausbreitete und verhallte, und wie schließlich Schritte vernehmbar wurden, ein Schlurfen, das sich dem Tor langsam näherte. Dann hörte er den Schlüssel im Schloss.
Wie sie ihn musterte, war ihm unangenehm. Sie hatte sich in dem Eingang vor ihm aufgebaut, eine Hand in die Hüfte gestemmt, ihrem herrischen Blick schien nichts zu entgehen. Der kalte Wind verstärkte seinen Wunsch, eingelassen zu werden. Er erwiderte ihren Blick, da blitzte es spöttisch und herausfordernd in ihren Augen: »Du kommst spät.« Ihre Stimme erinnerte ihn an etwas, er duldete es, dass sie ihn duzte.
»Na, kommst du jetzt?« Er folgte ihr ins Innere des Hauses und über die Treppe in den ersten Stock. Als sie die Tür zu seinem Zimmer öffnete, stieg ihm der Geruch des fremden Körpers in die Nase: Schweiß, ein Hauch schweren Parfums, ihr üppiges dunkelbraunes Haar. Er konnte ihr kaum folgen, als sie ihm etwas erklärte, schließlich eine Frage stellte. Er nickte nur, während ihr Busen sich im Atemrhythmus hob, senkte, hob. Wieder senkte, hob. Das Dirndl, das sie trug, war kein billiges, das fiel sogar ihm, trotz seines Desinteresses an Mode, sofort auf. Es schien ihm die angemessene Verpackung für so viel Frau zu sein. Als sie ihm eine »Gute Nacht« gewünscht und sich zurückgezogen hatte, da lag er noch lange wach und dachte über die Bedeutung des letzten Blicks nach, den sie ihm zugeworfen hatte.
Am nächsten Morgen wusste er zuerst nicht, wo er war. Er fühlte sich sehr fremd. Traumfetzen fielen ihm ein: Er war durch ein Dorf geirrt, beobachtet von den Einheimischen hinter weißen Gardinen, die Straßen menschenleer. Ein schwüler Sommertag. In einem Wirtshaus wollte er zu Mittag essen, da saß außer ihm nur ein Gast in der Wirtsstube, der trug einen Blaumann und war mit Zigarettenrauchen beschäftigt, eine Zigarette in zwei oder drei tiefen Zügen, und die Zigarettenstummel drückte er mit überschüssiger Kraft in den dunkelblauen Aschenbecher. Aus der Küche kamen Geräusche, die verrieten, dass die alte Wirtin am Schnitzelklopfen war.
Jetzt fiel ihm wieder ein, wo er war, und die Frage nach dem Frühstück begann ihn zu beschäftigen, als er unter der Dusche stand. Er trocknete sich ab, betrachtete sich im Spiegel: Er fand seinen Gesichtsausdruck undefinierbar, dunkel. Er hatte nicht gut geschlafen, doch nach der Morgentoilette war er wach und, so sagte er sich: bereit für den Tag. Als er die Zimmertür von außen geschlossen hatte, fiel ihm auf, wie lang der Korridor eigentlich war, geschmückt mit Jagdtrophäen und alten Ölschinken. Vor einem Bild blieb er stehen: Das von den Hunden gehetzte Wild hatte, sich dem Betrachter zuwendend, den Kopf auf eigentümliche Weise zurückgeworfen. Seine verzerrten Züge drückten Todesangst aus und die Auflösung allen Ausdrucks. Lange, viel zu lange stand er da und versuchte nachzuempfinden. Schließlich riss er sich los.
In der Wirtsstube setzte er sich an einen der großen Tische und kam nicht umhin, eine Gruppe Männer zu beobachten, die schon dem Bier fleißig zusprachen. Ein Radio dudelte aus der Küche. Die Männer zeigten einander Dinge auf ihren Smartphones und lachten auf eine unangenehme Weise, hin und wieder sah einer zu ihm herüber. Als die zierliche kleine Kellnerin endlich vor ihm stand und er sich nach dem Frühstück erkundigte, bekam er zur Antwort: »Frühstück? Du kannst ein Bier haben.« Er starrte sie an, sie starrte zurück.
Immer wieder sah er auf sein iPhone: nichts. Er war der Welt abhanden gekommen. Die kleine Kellnerin brachte ihm so viel Bier, wie er haben wollte, und er wollte jetzt sehr viel Bier. Als er auf dem Weg zur Toilette die alte Wirtin wieder sah, die gerade einem Angestellten etwas zu erklären schien, da durchfuhr es ihn: »Ich bin ja komplett betrunken!« Kurz darauf, als er den vertrauten gelben Strahl in die Pissrinne dirigierte, hatte er schon wieder vergessen, was ihn eben noch beschäftigt hatte. Er ließ kaltes Wasser über seine Hände fließen, presste eine Hand gegen die Stirn, rieb sich die Wangen. Der Angestellte, den er mit der Wirtin gesehen hatte, kam pfeifend zur Tür herein.
Die Kellnerin wartete an seinem Tisch: »Du sollst zur Wirtin gehen.« Er hatte, das wurde ihm jetzt bewusst, auf diesen Befehl gewartet. Und er kannte den Weg, als wäre er ihn schon oft gegangen.
Als er vor der Tür stand, zögerte er noch einmal kurz. Doch dann geschah alles wie in Trance: »Herein!« war die Reaktion auf sein vorsichtiges Klopfen. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und sich über einen Tisch am Fenster gebeugt. »Tritt näher!« Er gehorchte, ihre Stimme durchdrang ihn wie schwerer Rotwein, wie ein Zug von einem Joint. Und er stand wie ein dummer Junge — vor ihrem bloßen Arsch, den sie, das Dirndl hebend, ihm darbot.
»Na?« sagte sie. Er war sprachlos, war plötzlich wieder nüchtern und fühlte sich ganz leer. Aber ein unheimliches Behagen und Begehren durchrieselte ihn, und er hatte das Gefühl, nach Jahren, viel zu vielen Jahren in der Wildnis — endlich zu Hause angekommen zu sein.
»Ja«, sagte er.